27. Juli 2022
Krypto muss sterben
Krypto ist ein Symptom politischer Ideenlosigkeit. Anstatt uns von den Versprechen von Bitcoin und Co. verführen zu lassen, müssen wir Kryptowährungen ganz abschaffen.
Mehr Spekulationsobjekt als Währung: Der Bitcoin.
Unsplash / Kanchanara.
Der Kryptomarkt ist im freien Fall: Der Kurs des Bitcoins – die wichtigste und erste Kryptowährung, die das Phänomen 2009 begründete – ist abgestürzt. Bereits vor einigen Wochen kollabierte der sogenannte Stablecoin Terra. Der Wert dieser digitalen Währung sei, wie immer behauptet wurde, durch algorithmisches Design an den US-Dollar gebunden – eine Illusion, wie sich herausstellte.
Die Krypto-Welt ist voller offensichtlicher Betrugsmaschen, halbgarer Geschäftsmodelle und fragwürdiger Angebote. Von sozialistischer Seite wurde daher auch nicht mit Kritik gespart. Dennoch haftet vielen Argumenten eine gewisse Unklarheit an: Ist Krypto nichts weiter als ein Schneeballsystem? Wenn ja, warum hält der Hype schon seit über zehn Jahren? Und gibt es nicht vielleicht sogar Aspekte der Krypto-Technologie, die für sozialistische Ziele umfunktioniert werden könnten? Zentralbanken retten Banken und Milliardäre durch Bailouts und den massenhaften Kauf von faulen Vermögenswerten – könnten Kryptowährungen nicht unter Umständen doch dabei helfen, dass die Wirtschaft wieder den Interessen ganz normaler Leute dient?
Auch wenn wir es uns vielleicht wünschen: Der letzte Crash wird nicht dafür sorgen, dass Kryptowährungen einfach verschwinden. Der Kampf gegen Krypto muss auf politischem Weg gewonnen werden. Hierfür müssen wir die zugrundeliegende Technologie als auch den ideologischen Kern von Kryptowährungen besser verstehen.
Kein Buch mit sieben Siegeln
Die Funktionsweise von Kryptowährungen wirkt auf viele Menschen rätselhaft, was zur Mystifizierung der Technologie beiträgt und ihr eine innovative und zukunftsträchtige Aura verleiht. Dabei sind die grundlegenden Prinzipien weder besonders komplex noch neuartig.
Der Grundgedanke hinter Kryptowährungen wie Bitcoin ist – und darin stecken schon eine Menge politischer Werturteile –, dass es keine zentrale Instanz geben darf, die die »Konten« in der Währung verwaltet. Weder eine Zentralbank noch einzelne Geschäftsbanken sollen in ihrer Datenbank den Kontostand einzelner Teilnehmerinnen abspeichern und kontrollieren, unter welchen Bedingungen sie am Zahlungsverkehr teilnehmen dürfen. Denn – zumindest theoretisch – könnten Zentralbanken, so die Sorge der Krypto-Anhänger, »Geld aus dem Nichts« schaffen und damit die Stabilität von Währungen gefährden.
Gleichzeitig sollen Kryptowährungen den angeblich weit verbreiteten Betrug im regulären Zahlungsverkehr unmöglich machen, da die Transaktionen vollständig irreversibel sind. Wenn bei einer Kaufabwicklung ein Fehler unterläuft, kann eine Krypto-Nutzerin ihr Geld nicht zurückfordern oder bei einer zentralen Instanz einklagen.
Befürworter von Kryptowährungen setzen Dezentralität mit demokratischer Kontrolle gleich. Für sie ist es unvorstellbar, dass die Wirtschaft oder das Geldsystem im Rahmen kollektiv verwalteter Institutionen geplant und gesteuert werden können. Wenn es gar keine Institutionen mehr gäbe, in denen sich Macht auf illegitime Weise konzentrieren könnte, so die Annahme, könne man zumindest individuell Kontrolle über die eigenen ökonomischen Belange erreichen.
Um eine digitale Währung zu schaffen, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach vollständig »dezentral« funktioniert, wenden Kryptowährungen Verfahren an, die in der Informatik lang bekannt und weit verbreitet sind: »Einwegfunktionen« und darauf aufbauende asymmetrische Verschlüsselungsverfahren. Kryptowährungen basteln aus diesen – an sich bewährten – Komponenten ein äußerst ineffizientes System zusammen, das die angeblich weit verbreiteten Probleme des regulären Geldsystems, Zahlungsverkehrs und Bankenwesens lösen soll.
Hinter der Falltür
Den Kern dieser Verschlüsselungsverfahren bilden einfache mathematische Gesetzmäßigkeiten. Die meisten Menschen könnten mithilfe von Bleistift und Papier wahrscheinlich innerhalb einiger Minuten ausrechnen, was die Zahlen 7, 271 und 379 miteinander multipliziert ergeben (die Antwort lautet 718.963). Mit einem Taschenrechner ginge es vermutlich schneller. Wenn aber umgekehrt gefragt wird, welche Primzahlen man miteinander multiplizieren kann, um im Ergebnis bei 718.963 zu landen, wären die meisten von uns wohl zunächst ratlos. Auch ein Taschenrechner würde uns in diesem Fall nur bedingt weiterhelfen.
Falls uns die Auflösung des Rätsels wirklich hinreichend brennend interessiert, würden wir vermutlich irgendwann dazu übergehen, die Liste der Primzahlen durchzugehen und Kombinationen auszuprobieren. Mathematikerinnen und Mathematiker haben über die Jahrhunderte zwar bessere Herangehensweisen an dieses Problem entwickelt, doch auch sie sind immer noch aufwendig und benötigen selbst heute noch viel Rechenzeit.
Die Zerlegung einer großen Zahl in ihre Primzahlfaktoren ist ein klassisches Beispiel für eine mathematische »Einweg-« oder »Falltürfunktion«: Die Lösung des Problems ist aufwendig, die Überprüfung der Lösung hingegen trivial. In dieser Hinsicht verhalten sich solche mathematischen Probleme analog zu vielen Phänomenen der physischen Welt: Es ist einfacher, eine Tasse zu zerbrechen, als sie aus einzelnen Scherben wieder zusammenzusetzen.
Die Informatik nutzt solche Falltürfunktionen seit vielen Jahrzehnten, um Authentifizierungs- und Verschlüsselungsverfahren zu entwickeln, die nicht auf den Austausch von geheimen Passwörtern zwischen Endnutzerinnen beruhen, die auf dem Übertragungsweg gestohlen werden könnten. Stattdessen basieren moderne Verschlüsselungsverfahren – wie etwa das Verschlüsselungssystem TLS, das beim sicheren Abruf von Webseiten nach dem HTTPS-Protokoll verwendet wird – auf einem Paar an kryptographischen Schlüsseln: Einem öffentlichen Schlüssel, der zum Versenden von Nachrichten verwendet werden kann, und einem privaten Schlüssel, den die Empfängerin stets für sich behält, niemals mit Dritten teilt, und der notwendig ist, um die Nachrichten wieder zu entschlüsseln.
Eine mathematische Falltürfunktion stellt also sicher, dass ein Bruch der Verschlüsselung ohne den privaten Schlüssel praktisch unmöglich ist. Man kann sich das auch als eine Art mathematischen Briefkasten vorstellen: Jeder, der im Besitz des öffentlichen Schlüssels ist, kann etwas hineinwerfen, aber nur die Besitzerin des privaten Schlüssels kann ihn öffnen und die Nachrichten lesen.
Kryptowährungen folgen einem ähnlichen Grundprinzip. Die Protokolle sind so entworfen, dass man den Besitz einer bestimmten Währungseinheit darüber nachweist, ein mathematisches Problem zu knacken, das nur mithilfe des eigenen privaten Schlüssels in realistischer Rechenzeit lösbar ist.
Das Ideal der Dezentralität ist das höchste Gut der Krypto-Community. Man ist sich selbst am nächsten und traut weder einander noch dem Staat noch einer Bank. Deshalb erfolgt eine Zahlung in Bitcoin oder einer anderen Kryptowährung darüber, dass die Senderin öffentlich vor allen anderen Protokollteilnehmerinnen erklärt, dem Empfänger einen bestimmten Betrag zu überweisen. Die Transaktion wird mit einer Signatur bestätigt, die nur durch ihren privaten Schlüssel generiert werden kann, deren Authentizität aber anhand ihres öffentlichen Schlüssels leicht nachprüfbar ist.
Diese Verschlüsselungstechnologien sind an sich nichts Schlechtes und helfen dabei, das Grundrecht auf Privatsphäre zu schützen. Sie sorgen dafür, dass man in den darauf basierenden Zahlungssystemen – in einem sehr begrenzten, technischen Sinn – niemandem mehr »vertrauen« muss. Allerdings gilt das nur in Bezug auf die interne Logik des tatsächlichen Bitcoin-Protokolls: Gerade weil Zahlungen in Bitcoin nicht rückgängig gemacht werden können, muss ein Verkäufer darauf vertrauen, dass ein Kunde eine Lieferung auch tatsächlich bezahlt, und der Kunde muss wiederum darauf vertrauen, dass die Lieferung auch tatsächlich aufgegeben wird.
Zudem interagieren nur die allerwenigsten Akteure direkt mit den Servern des Bitcoin-Systems. Die meisten von ihnen nutzen Handelsplattformen und andere Broker, denen sie wiederum »vertrauen« müssen. Viele dieser »Exchanges« gehören zu den größten Bitcoin-Besitzern und tragen dazu bei, dass das Eigentum an der Kryptowährung insgesamt hochkonzentriert ist. An diesem Punkt kollidiert die Rhetorik eines dezentralen Bezahlungssystems für alle mit der Realität eines Markts mit hohen technischen Einstiegshürden, der große Player belohnt und zur Monopolbildung neigt.
Arbeit um der Arbeit Willen
Die dezentrale Natur des Zahlungsprozesses soll darüber sichergestellt werden, dass Transaktionen von keiner autorisierten Stellte bestätigt werden müssen. Stattdessen wird die Validität eines Zahlungsvorgangs durch einfache Berechnungen verifiziert, die auf jedem Computer vorgenommen werden können. Aus dem gleichen Grund gibt es auch keine zentrale Meldestelle für den Zahlungsverkehr in Kryptowährungen, sondern eine Vielzahl von miteinander vernetzten Servern, auf denen man solche Zahlungsvorgänge melden kann.
Das schafft eine ganze Reihe von neuen Problemen. Zum ersten stellt sich die Frage, wer innerhalb eines vollständig dezentralen Zahlungssystems entscheidet, wie viel »Geld« der Besitzerin eines bestimmten privaten Schlüssels zu einem gewissen Zeitpunkt überhaupt gehört, und wie viel sie deshalb auch berechtigt ist, an andere Teilnehmer auszuzahlen. Zweitens erfordert die Dezentralität des Protokolls, dass sich einzelne Server laufend untereinander abstimmen. Sie müssen die jeweils richtigen »Kontostände« für einzelne Nutzerinnen voneinander übernehmen und Zahlungsanweisungen, die diesen Kontoständen widersprechen, ignorieren. Drittens besteht das Risiko, dass jemand den Zahlungsverkehr durch massenhaften Spam lahmlegen könnte, indem etwa ungültige Zahlungsaufträge in Massen an das Netzwerk versendet werden.
Um diese drei Fallstricke zu umgehen, bedienen sich die meisten Kryptowährungen, darunter auch Bitcoin, dem »Proof of Work«-Konzept: Wer dem öffentlichen Verzeichnis der Transaktionen etwas hinzufügen möchte, muss eine bestimmte Menge an Rechenzeit auf einem eigenen Server aufwenden. Indem sichergestellt ist, dass bei allen Beteiligten gewisse Kosten anfallen, wird verhindert, dass die Abwicklung des Zahlungsverkehrs durch Spam lahmgelegt wird. Doch nicht nur das: Kryptowährungen nutzen »Proof of Work« ebenfalls, um die Konsistenz und Validität der Zahlungsvorgänge zu gewährleisten.
Hierbei kommt ein weiterer Anwendungsfall von Falltürfunktionen in der Informatik zum Tragen, nämlich sogenannte Hash-Verfahren. Hashes sind digitale Fingerabdrücke bestimmter Dateien, die durch die Anwendung eines mathematischen Einwegverfahrens zustande kommen. Sie zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass selbst winzige Veränderungen der Ausgangsdaten die Hash-Signatur vollständig verändern.
Im Bitcoin-Protokoll ist festgelegt, dass Transaktionen in »Blöcken« zusammengefasst und von den anderen Teilnehmern nur dann akzeptiert werden sollen, wenn die Transaktionen selbst valide sind – wenn also das »Konto« der Senderin ausreichend gedeckt ist – und die Hash-Signatur des Blocks bestimmte Bedingungen erfüllt. Es gibt nur eine Möglichkeit, um auf eine Signatur zu stoßen, die die Bedingungen für Validität erfüllt: Man muss an einem Block immer wieder kleinste Veränderungen vornehmen und solange verschiedene Möglichkeiten durchprobieren, bis man auf eine richtige Lösung stößt.
Genau so funktioniert das berühmte »Mining« oder »Schürfen« von Kryptowährungen. Die verwendete Rechenzeit dient keinem weiteren produktiven Zweck. Der Anreiz, Mining im großen Stil zu betreiben, entsteht dadurch, dass sich die »Entdeckerin« eines validen Blocks samt passender Hash-Signatur selbst einen bestimmten Betrag in Bitcoin durch eine Buchung »aus dem Nichts« zusprechen darf – allerdings nur so lange, bis eine bestimmte Gesamtmenge an Bitcoin geschürft wurde, was gemäß Vorhersagen irgendwann im 22. Jahrhundert der Fall sein könnte. Beim Bitcoin-Mining findet also keine Verarbeitung von irgendwie nützlichen Informationen statt, noch wird auf irgendeine andere Art ein Gebrauchswert erzeugt. Es ist ein reiner Rechenwettbewerb zwischen Serverfarmen, ein Zahlenspiel ohne jegliche externe Referenz, das auf der Logik künstlicher Verknappung gründet.
Bitcoin behauptet daher, einen »neuen Goldstandard« zu etablieren. Doch wer versteht, was beim Schürfen von Kryptowährungen technisch vor sich geht, erkennt schnell, dass dieser Vergleich in die Irre führt. Eine Währung, die von einer physischen Ressource wie Gold gedeckt ist, hat wenig Gemeinsamkeiten mit einem digitalen Wettspiel zwischen Großrechnern. Denn erstens ist Gold eine echte Ressource, die tatsächlich knapp werden kann und nicht künstlich verknappt werden muss. Und zweitens hat das Metall – über sein kulturelles Prestige hinaus – einen echten Gebrauchswert. Es findet etwa Verwendung in bestimmten elektronischen Komponenten oder in der Medizin. Nichts davon trifft auf »Guthaben« in einer dezentralen Datenbank zu.
Alle gegen alle
Die Belohnung in Form neu geschaffener Bitcoins steht nur demjenigen zu, der eine passende Signatur zum Block findet. Die »Miner« liefern sich deshalb eine permanente Materialschlacht, um immer mehr Rechenleistung auf das Schürfen von Kryptowährungen verwenden zu können – denn je mehr Rechenpower man selbst aufwenden kann, desto besser stehen die Chancen, als erster den nächsten Block zu entdecken und die Trophähe einzusammeln. Doch das Bitcoin-Protokoll ist so konzipiert, dass es sich stets automatisch an die vorhandene Rechenleistung anpasst, ohne dass dadurch mehr Kapazitäten für Transaktionen entstehen. Durch das Wettrüsten der Miner werden die Zahlungsprotokolle also weder leistungsfähiger noch werden die Märkte liquider – es liefern sich lediglich immer mehr Mitspielerinnen ein Rennen um den nächsten Block, ohne dass hierdurch ein sonstiger Nutzen entstünde. Allein die Kryptowährung Bitcoin verbraucht dadurch aktuell etwa so viel Strom wie ganz Argentinien – Tag für Tag, Monat für Monat. Das Ganze ist eine enorme Verschwendung von – meist fossiler – Energie, die sich im Zeitalter der Klimakrise eigentlich verbietet.
Strenggenommen sind Kryptowährungen wie Bitcoin also eher mit Fiat-Währungen wie elektronischen US-Dollar, die auf einem Zentralbankkonto bei der Federal Reserve liegen, vergleichbar. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Autorität, sie auszugeben, nicht zentral durch einen Rechtsakt des US-Kongresses, sondern dezentral über die Verschwendung von Rechenleistung vergeben wird. Bitcoins haben keinerlei intrinsischen Wert. Ihr »Wert« wird einzig und allein dadurch bestimmt, wie begehrt sie unter anderen Marktteilnehmern sind.
Ansonsten sind Kryptowährungen durch keine externen Sicherheiten »gedeckt«, auch sie entstehen per Fiat, als Teil eines per Konsens und technischer Praxis etablierten Protokolls. Aber an die Stelle der Staatsmacht, um deren Gunst verschiedene Interessengruppen buhlen, tritt die unerbittliche Macht der Mathematik, von der sich niemand einen Bailout erhoffen kann.
Doch auch wenn der Gedanke befriedigend und politisch richtig ist, inkompetente Banker im eigenen Saft schmoren zu lassen: Ein gesamtgesellschaftlich sinnvoller Umgang mit dem Geldsystem als Gemeingut wird hierdurch unmöglich gemacht. Sollte der Sozialismus noch auf ein Geldsystem angewiesen sein (und die Meinungen, ob dies der Fall sein wird, gehen auseinander), so wird dieses notwendigerweise auf einem explizit politischen, demystifizierenden Verständnis von Geld gründen. Geld ist Ausdruck eines Anspruchs auf gesamtgesellschaftliche Arbeitskraft. Eine Politik im Interesse arbeitender Menschen muss es auch explizit so auffassen und die Möglichkeit einer stetigen gesellschaftlichen Neuverhandlung der im Geldsystem ausgedrückten Machtverhältnisse einschließen. Kryptowährungen sind explizit dafür entworfen worden, um genau das zu verunmöglichen. Wir müssen uns entscheiden: Bitcoin oder Sozialismus. Die gute Nachricht lautet, dass wir durch ein Verbot von Kryptowährungen nicht viel verlieren würden: Ihre angeblichen Vorteile halten einer genauen Überprüfung nicht stand.
Fragile Dezentralität
Die Transaktionsgeschichte einer Kryptowährung wie Bitcoin ist dadurch festgeschrieben, dass die Hash-Signaturen vergangener Blöcke in den jeweils nächsten Block integriert und damit nicht mehr verändert werden können. Durch das permanente Wettrennen der Miner um den nächsten Block entsteht so über die Zeit eine Struktur, die vollständig transparent und unveränderlich ist: die Blockchain. Wer auch immer den nächsten Block entdeckt, kann ihr die nächste Ebene hinzufügen, alle anderen gehen leer aus und müssen von vorne beginnen. Dies ist auch der Grund, warum die Anonymität des Zahlungsverkehrs bei Bitcoin allenfalls bedingt gegeben ist. Denn man kann seinen privaten Schlüssel zwar beliebig oft wechseln und sein Guthaben an die neue Adresse überweisen, über längere Zeit lassen sich solche Zusammenhänge aus dem Kontext verschiedener Transaktionen jedoch relativ gut rekonstruieren.
Bitcoin kann sein Versprechen als vollständig anonymes, krisenfestes und dezentrales Zahlungssystem nicht halten. Sollte ein Server oder selbst eine Gruppe oder ein ganzer Kontinent an Rechnern vom Hauptnetzwerk getrennt werden – etwa durch einen Krieg, eine schwere Naturkatastrophe oder einen Malware-Angriff, der signifikante Teile der Übertragungsinfrastruktur des Internets für längere Zeit lahmlegt –, würden aus einer Blockchain auf einmal zwei werden, da es in den beiden getrennten Netzwerken jeweils einen Sieger gäbe, der den nächsten Block entdeckt. Mit jedem weiteren Block würden sich die beiden Blockchains unweigerlich auseinander entwickeln. Bei einer Wiedervereinigung nach einem solchen »Network Partition Event« würden laut Protokoll alle Teilnehmer die längere Version der Blockchain übernehmen und die kürzere ignorieren: Die Zahlungshistorie des kleineren Netzwerks würde vollständig ausgelöscht werden.
Bitcoin ist als System auf Gedeih und Verderb auf eine hoch vernetzte Welt mit einer reibungslos funktionierenden Infrastruktur ausgelegt. Für das Mad-Max-Universum der Fantasiewelten libertärer Prepper ist es also gänzlich ungeeignet. Im Fall einer ernsthaften Störung der globalen Informationsflüsse oder eines zivilisatorischen Kollapses würden Kryptowährungen augenblicklich jeglichen praktischen Wert verlieren.
Doch bislang schleppt sich die Zivilisation von Krise zu Krise und so bleibt uns auch das Phänomen Krypto vorerst erhalten. Das grundlegende technische Konzept, so ineffizient, umweltschädlich und irrational es auch sein mag, funktioniert – und es wird auch weiterhin noch funktionieren, solange das Internet in seiner heutigen Form fortbesteht. Wäre das nicht der Fall, wären im System Krypto inzwischen keine Milliardenbeträge gebunden.
Doch wenn Kryptowährungen keinen intrinsischen Wert repräsentieren und durch keinerlei Institution gedeckt sind, stellt sich die Frage, warum so viele Marktteilnehmer bereit sind, sich an diesem digitalen Wettspiel zu beteiligen. Im Wesentlichen gibt es darauf zwei Antworten: Kriminalität und Ideologie.
Das Versprechen einer schlechteren Welt
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt eigenen sich Kryptowährungen relativ gut, um große Zahlungen über Grenzen hinweg zu tätigen, und dabei zumindest für eine gewisse Zeit anonym zu bleiben, denn Strafverfolgungsbehörden brauchen Zeit, um Zahlungsströme nachvollziehen zu können. Das organisierte Verbrechen nutzt diese Möglichkeit erwartungsgemäß sehr gerne. Bitcoin diente in den letzten Jahren im Fall von Hyperinflation, wie etwa in Venezuela, gelegentlich auch als Wertspeicher, wenn sich die offizielle Währung eines Landes hierfür nicht mehr eignete. Dieser Anwendungsfall stellt allerdings die Ausnahme dar.
Der Großteil der Nachfrage nach Krypto ist allerdings ideologisch bedingt: Die Welt der Kryptowährungen ist untrennbar mit einem libertären Freiheitsversprechen verknüpft. Unser Demokratieverständnis ist so verkümmert und Alternativen zum Wirtschaftssystem des Kapitalismus im öffentlichen Bewusstsein so wenig verankert, dass die Krypto-Ideologie auf fruchtbaren Boden fällt. Die Verheißung von Kryptowährungen, dass allein durch Dezentraliät eine Art demokratische Utopie entstehen könne, verspricht auf den ersten, unkritischen Blick mehr Teilhabe in ökonomischen Belangen. Gerade auf Gruppen, die von Diskriminierung betroffen sind, kann dies anziehend wirken. Menschen und zunehmend auch Unternehmen, die ihr Geld in Kryptowährungen stecken, tun das in den meisten Fällen auch deshalb, weil sie dieser Ideologie zumindest teilweise verfallen sind.
Wer jetzt einsteigt, so dass Versprechen libertärer Glücksritter, erhält noch einen Gründerbonus dieser neuen digitalen Währungswelt. Alle anderen – die Zögerer – müssen sich ihre deflationären Währungen später wohl oder übel durch Arbeit erwirtschaften. Dieses politische Versprechen stellt eine kontinuierliche Nachfrage nach kryptografischen Assets wie Bitcoins und NFTs sicher. Um die politische Ökonomie des Kryptobooms und -busts wirklich zu verstehen, müssen wir diese explizit politische Komponente mitbedenken.
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Krypto-Investorinnen und -Investoren, die nur auf Wertsteigerung spekulieren, so wie es bei jedem anderen Vermögenswert auch der Fall ist. Doch ohne dieses explizite politische Versprechen wäre niemals genug Nachfrage nach im Grunde wertlosen Datenbankeinträgen entstanden. Libertäre Ideologie war die Grundlage für eine Art Bootstrapping-Verfahren, um Kryptowährungen überhaupt erst mit Wert aufzuladen und für institutionelle Spekulanten interessant zu machen. Die Ideologen waren die Krypto-Investorinnen der ersten Stunde und sie treiben die Nachfrage weiterhin entscheidend voran.
Die sozialistische Linke riskiert, diese politische Herausforderung zu übersehen, da sie orthodoxen Geldtheorien anhängt, die für ein Phänomen wie Kryptowährungen wenig überzeugende Erklärungsansätze bieten. Sowohl marxistische Geldtheorien als auch die Modern Monetary Theory (MMT) haben in dieser Hinsicht blinde Flecken. Marxistinnen und Marxisten bestehen zurecht darauf, dass sich in Geld Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Arbeitskraft ausdrückt. Sie haben aber wenig darüber zu sagen, warum diese Manifestation unter konkreten Umständen eine bestimmte Form und keine andere annimmt.
Die Modern Monetary Theory geht hier noch einen Schritt weiter und bindet Währungen explizit an den Staat als Herausgeber: Durch das Gewaltmonopol des Staats und seine Fähigkeit, Steuern in Eigenwährung einzutreiben, entsteht die Grundnachfrage nach einer Währung, durch die sichergestellt ist, dass sich staatliche Währungen als allgemeines Zahlungsmittel durchsetzen. Der Vorläufer dieser Theorien wurde als Chartalismus bezeichnet. Dieser besagt, dass Währungen auf Steuerschulden gegenüber Staaten basieren, und ihren Wert letztlich aus der Fähigkeit dieser Staaten beziehen, diese Schulden auch einzutreiben. Die MMT hat diese These, in grundsätzlich überzeugender Art und Weise, auf das moderne Fiat-Geldsystem und insbesondere den US-Dollar übertragen.
Phänomene wie Kryptowährungen zeigen uns allerdings, dass die chartalistische Verengung auf den Staat als Herausgeber von Währungen unter bestimmten Umständen zu kurz greift. Es stellt sich die Frage, warum nicht auch andere Akteure – wie etwa Privatunternehmen – in der Lage sein sollten, allgemeine Zahlungsmittel zu etablieren. In seinem Buch Zentralbankkapitalismus skizzierte Joscha Wullweber eine Geldtheorie, die den Chartalismus erweitert und auch Fälle abdeckt, in denen der Währungsherausgeber nicht notwendigerweise ein Souverän mit Gewaltmonopol sein muss. Laut Wullweber kann der auf den Staat fixierte Chartalismus nicht alle Aspekte von Geld als gesellschaftlichem und ökonomischem Phänomen hinreichend erklären.
Wullwebers Theorie bietet einen vielversprechenden Ansatz, um das Phänomen Kryptowährungen wirklich zu verstehen. Es handelt sich dabei um den Versuch, eine politökonomische Gegenhegemonie zu etablieren. Fantastische libertäre Heilversprechen, laute und penetrant auftretende Krypto-Bros, absurd übersteigerte Beefs zwischen den Anhängern einzelner Währungen, endlose Marketing-Auswüchse, ein exzentrischer Präsident eines Kleinstaats, der sich als Bitcoin-Jünger neu erfindet, Legendenbildung um die rätselhafte Figur des Bitcoin-Erfinders »Satoshi Nakamoto«, Arroganz gegenüber Außenseitern: All dies sind keine Epiphänomene von Kryptowährungen, sondern Teil der Selbstmythologisierung der Krypto-Welt und damit ihres Hegemonieprojekts.
Der Glaube an die Teilhabe an dieser schillernden Welt und ihren Versprechungen sind oft das eigentliche Produkt, das beim Kauf von Kryptowährungen erworben wird. Die Ökonomin Grace Blakeley formuliert es wie folgt: »Bei Krypto kann es keine Preiskorrektur auf zugrundeliegende Werte geben, weil es keine gibt. Man kann den kultähnlichen Aspekt auch so erklären: Der Preis reflektiert nur, was alle darüber denken. Das bedeutet, dass Investoren viel daran liegt, das die Leute auch tatsächlich an die Sache glauben.« Letztlich gilt, wie Hyman Minsky bemerkte: »Jeder kann eine Währung herausgeben, die Herausforderung besteht darin, sie auch akzeptiert zu bekommen.«
All diese öffentlichkeitswirksamen Provokationen sind Teil einer Strategie, Kryptowährungen hegemonial zu machen und fest in unserem Finanzsystem zu etablieren. Dass Krypto jemals ein Zahlungsmittel im Alltag wird, glauben wirklich nur die allerwenigsten seiner Anhänger. Denn als Ersatz für elektronisches Fiatgeld oder Bargeld eigenen sich Kryptowährungen schon aus ganz banalen Gründen nicht. Die Bestätigung einer Zahlung in Bitcoin durch die Server des Netzwerks dauert etwa zehn Minuten. Wer möchte schon so lange an der Supermarktkasse warten?
Doch darauf kommt es nicht an: Kryptowährungen müssen staatliche Währungen nicht vollständig ersetzen, um zu einer systemrelevanten Komponente im Finanzsystem zu werden. Denn während der letzten Boomphase investierten immer mehr Konzerne wie Microsoft in Krypto. Den Finanzmarkt stört es nicht, dass es sich hierbei um ein spekulationsgetriebenes, hochgradig irrationales Produkt handelt. Damit hat man dort Erfahrung.
Genau aus diesem Grund werden Kryptowährungen von Kritikern weniger als Währung denn als Spekulationsobjekt begriffen. »Bitcoin ist ein Witz, jedenfalls, wenn man glaubt, es sei Geld. Es ist viel zu volatil«, so der Ökonom und Politikwissenschaftler Mark Blyth. Stattdessen lasse sich Bitcoin am besten als »Vermögenswert in Form eines digitalen Glücksspiel-Coupons« auffassen. Aus politökonomischer Sicht sind Kryptowährungen also gar keine Währungen, sondern ein Asset, das seinen Wert daraus bezieht, dass eine kritische Masse an Marktakteuren daran glaubt, es handle sich dabei um eine Währung im klassischen Sinn. Die großen Player am Krypto-Markt wissen genau, dass sie normale Verbraucherinnen und Verbraucher nur so lange dazu verführen werden können, in ihre bestenfalls waghalsigen und oft betrügerischen Maschen zu investieren, wenn Krypto sein glanzvolles Image als »alternatives Geld« behält. Tatsächlich ist Krypto nichts weiter als ein – besonders spekulativer – Vermögenswert. Und so folgt Krypto den normalen Gesetzmäßigkeiten der Asset-Ökonomie: Ziehen die Zentralbanken die Zinsen an, steht weniger Spekulationskapital zur Verfügung und es kommt zum Preiscrash – wie jetzt.
Viele Sozialistinnen und Sozialisten tendieren nach wie vor dazu, Kryptowährungen als Blase und als Randphänomen zu betrachten, das sich irgendwann von selbst erledigen wird. Es reicht nicht, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Kryptowährungen wert- und nutzlos sind. Wir müssen sie stattdessen als politisches Projekt begreifen, das die umfassende Finanzialisierung des globalen Kapitalismus um eine weitere Dimension erweitert, ohne dass hierfür staatlichen Fiat-Geld gänzlich aus unserem Alltag verschwinden müsste. Kryptowährungen lösen keine realen Probleme, sie erweitern den Finanzsektor nur um eine weitere Ebene der Wertabschöpfung.
Wir müssen die politische und ideologische Auseinandersetzung mit Kryptowährungen offen suchen und ihnen auf die einzige gangbare Weise beikommen, die funktionieren wird: Kein regulatorischer Rahmen, sondern umfassende Verbote. Sozialistische Regierungen, etwa in Bolivien, sind bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Der Rest der Welt sollte es ihnen gleich tun.
Anm. d. Red.: In einer früheren Fassung des Textes stand, der Bitcoin sei auf den tiefsten Stand seit 2017 gefallen. Tatsächlich ist er unter den Höchstwert des Booms von 2017 gefallen.
Author: Ann Acevedo
Last Updated: 1703032081
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