Wenn es um politische Werbung geht, sind die Regeln von TikTok eigentlich eindeutig. „TikTok verbietet seit langem politische Werbung, sowohl bezahlte Anzeigen als auch das Bezahlen von Creator*innen für die Erstellung von politischen Markeninhalten“, heißt es in den Richtlinien. Besonders strikt ist die Videoplattform des chinesischen Unternehmens ByteDance bei Accounts von Politiker:innen oder Parteien, denen laut einem Blogpost aus dem Jahr 2022 automatisch der Zugang zur Werbefunktion verwehrt wird.
Und doch: Forscher:innen der Stiftung Neue Verantwortung (SNV) haben in einer Untersuchung mehr als hundert Werbeanzeigen auf TikTok gefunden, deren Absender die Accounts von Abgeordneten oder Parteien aus Deutschland sind. Möglich ist die Untersuchung, weil TikTok seit kurzem ein Archiv geschalteter Werbeanzeigen zur Verfügung stellt – eine Vorgabe aus dem Digitale-Dienste-Gesetz der Europäischen Union. Die Öffentlichkeit erhält damit erstmals Einblick in die Werbung auf TikTok, auch wenn die SNV kritisiert, dass TikTok nicht genügend Informationen bereitstelle.
Insgesamt haben die Forscher:innen 105 Anzeigen von Politiker:innen oder Parteien gefunden. Fast die Hälfte stammt der Analyse zufolge von der SPD, nämlich 52. Mit 26 Anzeigen auf TikTok stellt die AfD die zweitgrößte Gruppe, gefolgt von den Freien Wählern mit 13 Anzeigen und der FDP mit acht Anzeigen. Von der Partei Die Linke haben die Forscher:innen fünf Anzeigen entdeckt und eine von der CDU. Abgeordnete oder Parteigliederungen der Grünen haben demzufolge keine Anzeigen geschaltet.
AfD-Bundestagsabgeordneter verstieß gegen Werbeverbot
Um die Relation richtig einschätzen zu können, ist wichtig, dass die Forscher:innen im Zeitraum von Anfang 2022 bis Ende August 2023 insgesamt 7,5 Millionen Anzeigen gefunden haben. 105 politische Anzeigen sind da nur ein Bruchteil – und doch stellen sie Verstöße gegen die Regeln der Plattform dar. Dessen ist sich auch TikTok bewusst. Nach unserer Presseanfrage löschte der Konzern die unrechtmäßig geschalteten Anzeigen aus dem Transparenzarchiv.
Für die Öffentlichkeit ist nun nicht mehr direkt nachvollziehbar, wer sich über TikToks Regeln hinwegsetzte. Doch die Forscher:innen der SNV haben eine Datenbank mit den politischen Anzeigen erstellt, die sie gefunden haben. Teilweise stammen sie von Ortsverbänden der Parteien, teilweise von politischen Jugendorganisationen. Vor allem von der Jungen Alternative stechen gleich mehrere Anzeigen ins Auge, also der Jugendorganisation der AfD. Aber auch die Linksjugend Dresden hat dem Datensatz zufolge eine Anzeige auf TikTok geschaltet.
Außerdem finden sich in dem Datensatz mehrere Landes- und Bundespolitiker:innen. Auch hier sind es besonders häufig Abgeordnete der AfD, etwa der Bundestagsabgeordnete Frank Rinck, der niedersächsische Landtagsabgeordnete Marcel Queckemeyer oder Olga Petersen, Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft. Vereinzelt verstießen jedoch auch Politiker:innen anderen Parteien gegen das Werbeverbot, etwa der bayerische Landtagsvizepräsident Wolfgang Heubisch. Der FDP-Politiker ist einer der erfolgreichsten Politiker:innen auf der Plattform und erreicht mit seinen Videos teilweise Millionen Aufrufe.
Schaut man sich die Anzeigen der SPD an, fällt auf, dass fast alle von einem Konto stammen: dem der SPD Frankfurt am Main. Wenn man vor TikToks Löschaktion im Werbearchiv nach der SPD Frankfurt suchte, lächelte einen häufig das Gesicht von Mike Josef an. Er ist seit dem Frühjahr Bürgermeister von Frankfurt am Main und lieferte sich im Wahlkampf ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit seinem Mitbewerber von der CDU.
SPD-Werbung für Shisha und Schufa?
Die Ausgangslage für Josef war nicht gerade einfach: Der vorherige Amtsinhaber Peter Feldmann, ebenfalls SPD, war wegen eines Korruptionsskandals abgewählt worden. Mit seinen 40 Jahren ist Josef für einen Politiker verhältnismäßig jung, da liegt der Gedanke nahe, auf TikTok für ihn Wahlkampf zu machen.
Im Anzeigenarchiv fand man bis vor kurzem verschiedene Kurzvideos mit Werbung für den SPD-Politiker. Mal war er beim Sport zu sehen, etwa auf dem Fußballplatz oder beim Basketball. Mal lief er durch den Regen und sprach über sein Aufwachsen in einer Wohnsiedlung. Mal warben andere Unterstützer:innen für ihn. Laut Archiv haben die einzelnen Videos nie mehr als 100.000 Aufrufe erzielt.
Das ist alles nicht besonders aufregend, klassische Partei-Kommunikation auf Social-Media. Eigentlich etwas zu langweilig für TikTok. Doch dann gibt es da noch diese andere Werbung. Besonders ins Auge stechen nämlich Anzeigen, für die laut TikTok-Archiv zwar die SPD Frankfurt verantwortlich ist, die aber gar nicht für Mike Josef werben. Oder für die SPD. Sondern für die Schufa.
„Weil lustig bisher nicht unser Ding war“ steht auf dem Vorschaubild der Anzeigen. Die Anzeigen stammen aus dem Frühjahr und Spätsommer 2023, sie sind Teil einer neuen Selbstvermarktung des Bewertungsunternehmens. Die Schufa ist umstritten, weil sie Daten von Millionen Menschen sammelt und auf dieser Grundlage einen intransparenten Bonitäts-Score errechnet. In dem Video erklären zwei Influencerinnen, warum die Schufa in Wirklichkeit total cool und praktisch ist.
Und dann gibt es da plötzlich Content, indem es um gar nichts Politisches mehr geht, sondern um Shishas und ums Vapen, also das Rauchen von E-Zigaretten. „We love Hookas, we love Babes“ steht auf dem Vorschaubild, umweht von grünem Rauch. Das macht stutzig.
Schuld ist wieder mal die Agentur
Seit dem Skandal um Facebook und Cambridge Analytica kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Aufregung und Regelverstößen bei politischer Werbung in Sozialen Medien. In Deutschland verstieß der CDU-Politiker Max Otte gegen Twitters Verbot politischer Werbung, als er sich selbst als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten promotete.
Mutmaßlich sogar gegen die Grundsätze der Verfassung verstießen das Bundesarbeitsministerium von Hubertus Heil (SPD) und das Landesklimaministerium von Anne Spiegel (Grüne), als sie zielgerichtete Werbung auf Facebook für Parteianhänger:innen schalteten. Die Ministerien entschuldigten sich, als die Sache vom ZDF Magazin Royale aufgedeckt wurde, und verwiesen auf Dienstleister, die Schuld and den Fehlern seien.
Aber macht die SPD wirklich Werbung auf TikTok für Shishas und die Schufa? Nein, sagt uns ein Sprecher der SPD Frankfurt. Er verweist auf einen Dienstleister, der für die Partei Werbung schaltet. Das Werbekonto der SPD Frankfurt werde nämlich von einer Werbeagentur namens Bitfuel geführt. Die Firma schaltet jedoch nicht nur für die SPD Werbung, sondern auch für andere Kunden. Zum Beispiel die Schufa.
Dabei ist der Agentur offenbar ein Fehler unterlaufen. „Im von Ihnen angesprochenen Fall handelt es sich nach ersten Informationen wohl um einen einfachen Namensfehler in den Einstellungen des Werbekontos innerhalb der Adminrechte und Zuweisungen der TikTok-Kanäle, die betreut werden“, schreibt uns der SPD-Sprecher. Vereinfacht gesagt: Statt die SPD nur als Absender der SPD-Anzeigen einzutragen, landete sie auch als Absender hinter den Anzeigen, die die Agentur für die Schufa und andere geschaltet hat.
Tatsächlich aber stehe die SPD Frankfurt, das betont der Sprecher ausdrücklich, „in keinerlei Zusammenhang mit der SCHUFA“. Vor allem stehe die Partei auch nicht hinter der Finanzierung der Schufa-Werbung auf TikTok. Die Werbeagentur rechne lediglich Anzeigen ab, die sie tatsächlich im Auftrag der SPD Frankfurt gekauft und bezahlt habe.
Manchmal rutscht was durch
Wie TikTok mit politischen Anzeigen umgeht, dürfte derzeit vor allem für die Europäische Union interessant sein. Nicht nur wegen der Frage, wie die Plattform die Regeln des Digital Services Act umsetzt. Sondern auch, weil die EU derzeit über verschärfte Regeln für politische-Online-Werbung verhandelt.
2024 wählt Europa ein neues EU-Parlament. Dann sollen Politik und Plattformen transparenter mit Werbung umgehen müssen und die Datennutzung einschränken. Mit seinem strikten Verbot politischer Werbung übererfüllt TikTok die Vorgaben eigentlich. Doch wenn das Unternehmen die eigenen Regeln nicht durchsetzen kann, was sind sie dann wert?
TikTok selbst kann bislang nicht beantworten, woran es liegt, dass Parteien und Politiker:innen Anzeigen schalten konnten. Am Donnerstagmittag hatten wir dem Unternehmen eine kurze Presseanfrage geschickt. Bis heute liegen keine schriftlichen Antworten vor.
Eine Sprecherin vertröstete uns mehrfach und teilte lediglich telefonisch mit, dass man sich des Problems bewusst sei, dass vereinzelt politische Anzeigen durchrutschen. Wenn man die Werbefunktion für alle Inhaber:innen und Bewerber:innen politischer Ämter sperren will, müsse man mehr als zehntausend Menschen im Blick behalten.
Author: Howard Klein
Last Updated: 1703921042
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